Gastfreundschaft
Im alten Orient, wo der Gast unter dem besonderen Schutz des Gastgebers stand, war die Gastfreundschaft eine heilige Sache. Auch noch heute wird die orientalische Gastfreundschaft weltweit gerühmt. Die Mexikaner sollen am geselligsten sein und wenigstens einmal pro Woche Besuch empfangen. Auch die Südländer werden als sehr gastfreundlich eingestuft, gefolgt von den Deutschen, Amerikanern und Engländern. Dann kommen die Nordländer und die Franzosen. Den Schluss sollen die Kanadier und Australier bilden. Es ist verständlich, dass jede Nation eine spezielle Art der Gastfreundschaft bevorzugt.
In Tunesien wurden wir in einem Zelt empfangen. Die Dame des „Hauses“ saß auf dem mit Teppichen ausgelegten Boden und bereitete dort den Tee, während wir auf dem einzigen Stuhl und dem Bett Platz nehmen sollten. In Israel wurden wir in der Wohnküche mit kalten und warmen Spezialitäten verwöhnt. In Norwegen hat uns eine Familie spontan während des Mitsommerfestes zum nächsten Nachmittag zu sich eingeladen. Das war ein gemütlicher Kaffeebesuch, so, wie die Dänen, Holländer und wir ihn kennen. Die Engländer laden bevorzugt zur Tea–Time ein und servieren pikante, evtl. mit Teewurst belegte Häppchen.
Ich fand es schon als Kind herrlich, wenn wir Besuch bekamen oder wenn wir eingeladen wurden. So hatte ich zu meinem vierten Geburtstag ohne das Wissen meiner Mutter zwei Mädchen aus dem Kindergarten eingeladen. Zur Kaffeezeit, als meine Großeltern und die Freundin meiner Mutter mit ihrer Tochter Karin bereits bei uns waren, klingelte es. Beim Öffnen der Tür stand meine Mutter zwei ihr fremden Damen mit ihren Töchtern gegenüber, die wissen wollten, ob Einladung und Adresse richtig waren. Mit Lilly, Dagmar und Karin stehe ich noch immer in enger freundschaftlicher Verbindung.
Nach dem Krieg kamen manchmal Nachbarn und Freunde nach dem Abendbrot zu uns. Man hatte selten etwas anzubieten, aber die Menschen, die sich durch die im Keller durchwachten Bombennächte nähergekommen waren, freuten sich nun, friedvolle Stunden miteinander verbringen zu können. Man unterhielt sich, die Frauen strickten und stopften Strümpfe. Eines Abends kam auch meine Klavierlehrerin und gab auf unserem Flügel ein kleines Konzert. Als die Zeiten besser wurden, blühte wieder die alte Sitte des „Kaffeetrinkens“ auf und irgendwann gab es auch wieder Einladungen zu Abendessen und zu kleinen Partys.
Während des beruflich bedingten Parisaufenthaltes wurden wir jährlich von dem Unternehmen, für welches mein Mann arbeitete, in historische Gebäude zu Empfängen eingeladen. Dort lernten wir Menschen aus verschiedenen Ländern kennen, und manchmal wurden dann auch gegenseitige Einladungen ausgesprochen.
So haben wir Engländer und Amerikaner als sympathische, unkomplizierte Menschen und als gute Gastgeber kennengelernt. Bei den Engländern wurden wir mit köstlichem Lammbraten und bei den Amerikanern zu „Thanksgiving“ mit Putenbraten bewirtet. Die Gastfreundschaft der Franzosen, ihre Sitten und Kultur haben wir durch unsere französischen Freunde in vielfältiger Weise erfahren. Mit ihnen verbindet mich noch immer eine tiefe Freundschaft. Da das Essen in Frankreich eine große Bedeutung hat, beginnen die Vorbereitungen dafür schon mit der sorgfältigen Auswahl frischer und bester Zutaten für das mehrgängige Menü mit den dazu passenden guten Weinen. Der Abend beginnt gegen 20 Uhr mit einem Aperitif und endet zwischen 23 und 24 Uhr nach dem Käse, Dessert, Café und Digestif. Falls die Hausfrau nun noch Fruchtsaft anbietet, ist das der „Rausschmeißer“.
Eine Französin, die ich durch die Sprachschule kannte, hat mich mit meinem Mann und unseren Töchtern einmal zu einem sehr steifen Aperitif zu sich eingeladen. Wir sollten ihre Familie kennenlernen und unsere Töchter sind widerwillig mitgekommen. Als wir den Salon betraten, war die Familie schon versammelt. Im großen Kreis standen goldfarbene, rot gepolsterte Stühle im Stil Louis XIV. Nach Begrüßung und Platz nehmen wurden wir von den Enkeltöchtern in weißen Schürzchen bedient. Ich fühlte mich in dem Moment in den Salon hineinversetzt, den der französische Schriftsteller Marcel Proust (1871 – 1922) in seinem literarischen Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ beschrieben hat.
Dagegen hat der Journalist Pierre Daninos (geb. 1913 – 2005) in seinem Bestseller „Tagebuch des Major Thompson“ die englische und französische Gastfreundschaft mit Humor, Ironie und liebevoller Übertreibung verglichen. Er schreibt, dass es für einen Amerikaner viel leichter sei, in den Buckingham Palace eingeladen zu werden als für einen Engländer bei Franzosen zum Essen. Man würde zwar sofort nach der Ankunft in Frankreich dem Engländer sagen: “Sie müssen unbedingt zu uns zum Essen kommen“… Und dann vergehen Wochen. Es passieren so viele unvorhergesehene Dinge: die Kinder werden krank, die Köchin hat plötzlich Urlaub genommen, der Kochherd funktioniert nicht mehr … Nun, das ist natürlich alles ein wenig übertrieben; denn, wenn man länger als sechs Monate in Frankreich bleibt, wird man eventuell doch bei gewissen Familien eingeladen. Aber man prophezeit Ihnen: „Es gibt nur eine Kleinigkeit“ (la fortune du pot). Diese Kleinigkeit, die in England eine skelettartige Winzigkeit gewesen wäre, nimmt in Frankreich edelste Formen an. Und das erklärt das ganze Problem: Wenn Franzosen Sie zur Kleinigkeit einladen, serviert man Ihnen einen Gang nach dem anderen, und die Vorbereitungen dafür dauern eben lange. In England würde jedenfalls keine Hausfrau das gleiche Resultat erreichen in weniger als mehreren Wochen. Die Frage ist nun, zu wissen, ob es besser ist bei Engländern sofort eingeladen zu werden oder ob man sechs Monate wartet, um zu Franzosen gebeten zu werden. Ich meinerseits, ich neige zu der zweiten Lösung. Wissen Sie, das Essen ist dermaßen gut, dass es sich lohnt so lange darauf zu warten.
Natürlich hat der Gast dem Gastgeber gegenüber auch Pflichten. Jeder, der eine Einladung annimmt, weiß das auch und wird sie mit einem „Dankeschön“ honorieren. Das genügt in vielen Fällen, besonders bei Besuchen von Verwandten und Freunden. Das „Gastgeschenk“ bleibt größeren Einladungen vorbehalten und der Gast kann dadurch seiner Freude über die Einladung vermehrt Ausdruck verleihen. Er wird also dem Gastgeber eine „Kleinigkeit“ überreichen, die, wie wir bereits festgestellt haben, ein dehnbarer Begriff ist. In den meisten Fällen wird es ein Blumenstrauß sein, der bestimmt mit Freude angenommen wird. Grundsätzlich ist aber jeder Gast auch ohne etwaige Verpflichtungen selbstverständlich gerne gesehen.
Ich hoffe, dass wir alle die Pandemie bald überstanden haben und uns im nächsten Jahr am Gründonnerstag wieder zum Tischabendmahl in unserer Kirche als Gäste treffen und singen können: Komm, sag es allen weiter, ruf es in jedes Haus hinein! Komm, sag es allen weiter, Gott selber lädt uns ein.
Hannelore Krause